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Belgien holt einen toten Helden heim

Abgestürzter Jagdflieger lag fast 60 Jahre in einem Wald bei Oranienburg - Arbeitsgemeinschaft „Fliegerschicksale“ ermittelte

von Jens Rümmler

Friedrichsthal -  Die Schritte von Paul Boddien sind kurz, als er am Mittwoch die Dorfkirche in Friedrichsthal bei Oranienburg betritt. Aber wie ein 80-Jähriger wirkt der Belgier nicht; seine Augen sind sehr wach. Dabei hat er eine weite Reise hinter sich. Eine Sondermaschine der belgischen Luftwaffe brachte ihn und enge Angehörige am Morgen von Brüssel nach Berlin und ein Bus dann in den Oberhavel-Kreis.
Als Boddien am Abend zurückgeflogen wird, ist ein weiterer Verwandter an Bord, ein Onkel, Jacques Groensteen, oder besser gesagt, was von ihm geblieben ist. Der Verteidigungsminister des Königreichs empfängt sie am Flugplatz. Es ist eine wichtige Mission. Sie gilt einem Helden.
Groensteen war Jagdflieger, ein Belgier im Dienst der britischen Royal Air Force. Am Abend des 20. April 1945 stieg er in Celle gemeinsam mit sechs weiteren „Spitfire“-Piloten zum Patrouillenflug nach Berlin auf. Nördlich der Hauptstadt trafen sie auf Jagdflieger der Luftwaffe und schossen fünf deutsche FW-190 ab. Groensteen flog bei der Verfolgung einer Maschine bedenklich tief, bis zur Bodenberührung. Und zerschellte. Für fast sechs Jahrzehnte lagen Groensteens Reste in einem Wald bei Oranienburg, aber niemand hat es gewusst. Der Belgier erlitt das Schicksal aller, denen der Krieg die letzte Ruhe nicht gönnt: vermisst.
Die belgische Delegation, Boddien, eine Handvoll Veteranen und Soldaten, der Botschafter in Berlin, die gekommen war, den Toten heimzuholen, nahm den Absturzort kurz in Augenschein. Betretenes Schweigen. Nur das Knirschen des verharschten Schnees ist zu hören.
„Wir warteten so lange auf Nachricht von Jacques“, erzählt Paul Boddien. Die Eltern hätten schon den anderen Sohn im Krieg verloren; bis zu ihrem Tod hätten sie auf eine Nachricht von oder wenigstens über ihren Jungen gehofft, der die Heimat verließ, als er Anfang 20 war, um sich den Engländern anzuschließen; sie kam nicht. Sie konnte ja nicht kommen.
Boddien, der Neffe, hat aus der kleinen Ortschaft bei Lüttich, wo er lebt, ein Foto des jungen Piloten nach Friedrichsthal mitgebracht. Schneidig sieht der aus in seiner Uniform. „Jetzt ist es kaum fassbar, dass sein Schicksal doch noch aufgeklärt werden konnte“, sagt Boddien. Er ist tief bewegt. Die Aufklärung ist der Arbeitsgemeinschaft „Fliegerschicksale“ zu verdanken. Sie forscht im Land Brandenburg nach den Schicksalen von vermissten Luftwaffenangehörigen.
Als Forstarbeiter in dem Wald bei Friedrichsthal auf Wrackteile einer englischen „Supermarine Spitfire“ stießen, machte sie sich an die Arbeit. Die Trümmerstrecke ist 160 Meter lang. „Enorm viel für ein relativ kleines Flugzeug. Die Spitfire muss in sehr flachem Winkel und mit hoher Geschwindigkeit abgestürzt sein“, erklärt AG-Mitglied Mario Schulze. Vor etwa zwei Jahren fanden er und Mitstreiter Reste einer Sauerstoffmaske und der Fliegerbrille. Knochen. Das schwierige Puzzle, das folgte, ist gelungen, der Flug rekonstruiert, der Flieger identifiziert.
Die kleine Gedenkfeier in Friedrichsthal befreite Jacques Groensteen aus dem leerem Massengrab der Vermissten. Nun ist er wieder zu Hause.

Artikel erschienen am 7. Feb 2003